(c) H.-G. Gräbe, 05/2006 Quelle: http://www.hg-graebe.de/Texte/Kommentare/UK/184-liebermann.txt ================================================================ Kommentar zum Text Sascha Liebermann: Freiheit ist eine Herausforderung, kein Schlaraffenland. Utopie Kreativ 184 (2006), 110-120. Ich möchte vorausschicken, dass mir Liebermanns Kritik an (Busch-05) aus dem Herzen spricht, siehe auch (Graebe-05), und ich vieles nicht besser hätte formulieren können. Besonders den notwendigen kritischen Blick auf vermeintlich unhintergehbare Prämissen in Buschs Argumentation über den Zusammenhang zwischen (dessen Verständnis von) Arbeit und einem sinnerfüllten Leben teile ich vollkommen. Offensichtlich - und spätere Aufsätze in der Grundeinkommensdebatte in UK (Zahn, Brangsch, Dellheim) bestätigen dies - ist es wirklich "ein Symptom unserer Lage, daß [wir] nach wie vor ... die fundamentale Bedeutung des Zusammenhangs der Freiheit der Bürger als Staatsbürger und der Solidarität im Gemeinwesen kaum erkennen." (Liebermann) Insofern ist es - wie (Brangsch-06) anmerkt - in der Tat müßig, einen Streit über die Verwendung eines der Begriffe "bedarfsorientierte Grundsicherung" oder "bedingungsloses Grundeinkommen" vom Zaun zu brechen, ohne {\em diese} Dimension der Problematik zu thematisieren. Aber darum geht es ja Liebermann auch nicht. Die konstatierte Fruchtlosigkeit der Bemühungen steht in eigenartigem Gegensatz zur Bedeutung des Themas der "Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit", das - gemessen an der Länge ihres 15-jährigen Bestehens - ein Dauerbrenner und langes Thema des linken Diskurses im PDS-Umfeld ist. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang insbesondere an die mit dem Rosa-Luxemburg-Preis 2000 ausgezeichnete Arbeit (Spehr-00), den Sammelband (Spehr-03) mit Reflexionen verschiedener Autoren zum Thema - besonders (Wolf-03) mit seinen Ausführungen zu "Grenzen der freien Kooperation", die sich aus der materiellen und sozialen Präformiertheit der kooperierenden Subjekte selbst ergeben - und auch spätere Luxemburg-Preisträger wie (Merten-03), um die es schnell auffallend ruhig wurde. Kurz, die Diagnose ist eindeutig: Die Bedeutung der Thematik wird ebenso anerkannt wie verdrängt. Eine ruhige und fundierte Analyse der theoretischen Versatzstücke, die in anderen linken Diskursen längst auf dem Tisch liegen - und Liebermann gehört mit (FSV) dazu - stößt auf Vorbehalte und Widerstände, die hier nicht näher analysiert werden sollen. Das wäre ein Thema für sich. Liebermann legt den Finger in die Wunde, wenn er konstatiert: "Für die Marxsche Theorie ... gilt dies ebenso wie für den Marktliberalismus: Beide können die basale Verankerung der Praxis in einer Gemeinschaft der Bürger nicht begreifen und erliegen in ihren Erklärungen einer ökonomistischen Verkürzung." Ob dies für Marx selbst gilt, bzw. ob dies vor 150 Jahren überhaupt Marxens Thema sein konnte, sei dahingestellt. Für die in ihrem Selbstverständnis (auch) in Marxens Tradition stehenden oben erwähnten PDS-Linken sind die zitierten Aufsätze im UK Beleg genug für die Richtigkeit einer solchen Analyse. Dieser Gleichklang in der Begriffstutzigkeit von Sozialisten und Marktliberalen erlaubt es, die Quelle einer derart beschränkten Sicht auf das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinwesen zu orten. Wenn die bisherige sozialistische Theorie genauso blind für solche Phänomene ist wie der Marktliberalismus, dann kann die Quelle nur in einem Bereich liegen, der gleichermaßen zur Krise des Kapitalismus wie des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts beigetragen hat - in der Krise der fordistischen Produktionsorganisation im Zuge der Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Es gilt also, (auch) das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinwesen aus der Ecke eines fordistisch determinierten Kommandosystems herauszuholen. Ein solches Kommandosystem, ob nun als "Diktatur des Proletariats" oder als "Diktat des Eigentums" (genauer: des Eigentümers) daherkommend, scheint am Ende zu sein - und die {\em Gründe} für dieses Ende sind letztendlich zu verstehen, wenn wir theoretisch weiterkommen wollen. Hier wird allerdings auch Liebermanns Argumentation schwach, denn der Rückzug auf eine "intrinsische Motivation" als zentrale Kategorie bleibt beim Phänomen stehen. Bei den vielen Parallelen der fordistischen Produktionsorganisation in Ost und West im Detail - wie (Kurz-94) überzeugend nachweist - ist der zeitlich frühere Zusammenbruch der realsozialistisch-etatistischen Variante des Fordismus gegenüber der auf dem "Diktat des Eigentums" beruhenden eine wichtige und im linken Umfeld weitgehend unverstandene Lehre der Geschichte. {\em Diese} Lehre ernst zu nehmen ohne zugleich das Hohelied der Marktwirtschaft zu singen, ist eine der zentralen Herausforderungen der theoretischen Neufundierung der Linken. Liebermanns Kritik einer "Unterminierung des Politischen auch in einer anderen Tradition" - nämlich der sich auf Marx berufenden -, "die in einer sozialtechnokratischen Vision die Ermöglichung von Freiheit vor allem als Problem der {\em Steuerung des Gemeinwesens} betrachtet", fällt dabei noch zu oft {\em nicht} auf fruchtbaren Boden. Im Übrigen - mit Blick auf entsprechende Personalmanagement- und -führungsstrategien der "klassischen BWL" - sind sozialtechnokratische Visionen kein Spezifikum der Linken. Liebermanns Fokus auf die "basale Verankerung der Praxis in einer Gemeinschaft der Bürger" geht da schon einen deutlichen Schritt weiter. Es ist allerdings nicht nur die "fundamentale Bedeutung des Zusammenhangs der Freiheit der Bürger {\em als Staatsbürger} und der Solidarität im Gemeinwesen" zu berücksichtigen, sondern vor allem die Möglichkeit und die Ergebnisse der tätigen Auseinandersetzung dieser Bürger mit der vollen Breite {\em ihrer eigenen} Lebensbedingungen, von denen ihr Dasein als Staatsbürger nur ein kleiner Teil ist. Die Aussage Liebermanns, dass der Mensch "nicht durch Arbeit" (genauer: durch Arbeit, wo er - im Marx'schen Sinne - "außer sich" ist) "zum Menschen wird, sondern durch seine Anerkennung", schätzt den Teil des Tätigseins, den Menschen nicht für andere, sondern {\em für sich} machen, zu gering. Nicht "das Gemeinwesen", sondern {\em meine Einbettung in dasselbe} ist der Dreh- und Angelpunkt meiner auf das Gemeinwesen orientierten Aktivitäten, und auch diese nur ein Teil meiner "tätigen Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensbedingungen" (NW). Die "vorberufliche intrinsische Motivierung" (Liebermann) selbst ist Ergebnis einer Genese und Ausdruck dessen, dass Erfahrung, Kompetenz und Wissen höchst individuell-subjektive Kategorien sind. Vor einer Gesellschaft, in der {\em diese} Parameter gegenüber einer - mit einem Zeitmaß messbaren - "Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt" (MEW 23, S. 59), an Bedeutung gewinnen und schließlich zu den entscheidenden gesellschaftlichen Faktoren werden, stehen auch ganz andere Herausforderungen. Wenn derartige individuell-subjektive Kategorien im Zentrum der Bewegungsgesetze der Gesellschaft stehen, dann sind auch die Mitglieder dieser Gesellschaft nicht mehr als Objekte, sondern nur noch als {\em Subjekte} gesellschaftlicher Prozesse zu verstehen. Als eigenverantwortlich und autonom agierende Subjekte, die im Übrigen der Kapitalismus mit der "unternehmerischen Persönlichkeit" erstmals in größerem Umfang produziert hat. Und als solche besteht ihre Freiheit zunächst darin, dass sie ihr Tun vor niemandem anderen als {\em sich selbst} zu rechtfertigen haben, auch nicht - primär - vor einer "Gemeinschaft der Bürger". Indem eine solche Freiheit physisch, materiell und sozial errungen und der damit verbundene Gestaltungsanspruch ausgefüllt wird, kommt allerdings die Frage der Potsdamer Denkschrift unmittelbar ins Spiel: "Aber wie haben wir die Freiheit zu verstehen, wenn sie nicht die törichte Freiheit sein soll, das Falsche zu tun? Wie bewahren wir uns und die Welt mit uns vor unserer Willkür, nachdem wir ein Stück weit aus dem Bedingungsgefüge der 'Ko-evolution' herausgetreten sind?" Eine Gesellschaft, vor die das Leben solche Fragen stellt, MUSS - bei Strafe ihres Untergangs - Antworten darauf finden. Und diese kann, wie in (Graebe-01) ausgeführt, nur in der Emanzipation dieser Gesellschaftssubjekte liegen als {\em Einheit aus Freiräumen und Kompetenz, aus Vertrauen und Verantwortlichkeit}. Mit einer solchen Emanzipation verbinden sich sowohl individuell als auch gesellschaftsbezogen Anspruch und Herausforderung. Der {\em hauptsächliche individuelle Anspruch} richtet sich auf materiell und sozial untersetzte Freiräume, in denen sich eigenverantwortlich Subjektivität entfalten kann, indem Gestaltungsansprüche entwickelt und ausgelebt werden, die sich in Zukunft immer weniger auf unmittelbare materielle Produktion - also "Arbeit" im herkömmlichen Sinne - richten können und werden. Die {\em hauptsächliche individuelle Herausforderung} besteht in der Aneignung und Entwicklung von Kompetenz, um solche Freiräume dann in der Tat auch verantwortlich gestalten zu können. Die {\em hauptsächliche gesellschaftliche Herausforderung} besteht in der Schaffung solcher Freiräumen, in denen kompetente Individuen Verantwortung übernehmen können, sowie von Bedingungen, unter denen sich Kompetenz eigenverantwortlich reproduzieren und weiter entwickeln lässt. Der {\em hauptsächliche gesellschaftliche Anspruch} besteht darin, dass die Individuen diese Freiräume nachhaltig nutzen, die Widersprüchlichkeit ihres con-currenten Handelns aufzulösen vermögen und so nicht nur diese Freiräume, sondern auch deren kooperative Vernetzung reproduzieren, kurz, "um die Vereinigung von Freiheit und Gleichheit in einer brüderlichen Assoziation vernetzter, selbstbestimmt agierender Produzenten, in welcher Gleichheit und Freiheit gerade durch Verschiedenheit der Kompetenzen und die Fähigkeit zum Eingehen verlässlicher Bindungen garantiert sind. In diesem Sinn bedingen sich Freiheit und Gleichheit gegenseitig und heiligen zugleich die Würde des Menschen." (Graebe- Dies geht weit über Liebermanns "bürgerschaftliches Engagement" hinaus. ====================================================== (Brangsch-06) Lutz Brangsch: Grundsicherung - ein vergessenes PDS-Konzept. Utopie Kreativ 187 (2006), 417-426. http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/187/187Brangsch.pdf (?) (Busch-05) Ulrich Busch: Schlaraffenland - eine linke Utopie? Kritik des Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens. Utopie Kreativ 181 (2005), 978-991. http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/181/181Busch.pdf (FSV) Freiheit statt Vollbeschäftigung. Ein Diskurs. Siehe http://www.freiheit-statt-vollbeschaeftigung.de. (Graebe-01) Hans-Gert Gräbe: Emanzipatorische Herausforderungen moderner Technologien - 10 Thesen. Version vom Mai 2001. http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte/e-thesen2.html (Graebe-05-1) Hans-Gert Gräbe: Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft. Chemnitzer Thesen. In: (RLKonf-05), S. 7-23. http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte/cc-thesen.pdf (Graebe-05-2) Hans-Gert Gräbe: Kommentar zum Text (Busch-05), Nov. 2005. http://www.hg-graebe.de/Texte/Kommentare/UK/181-busch.txt (Kurz-94) Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung. Reclam Verlag, Leipzig 1994. (Merten-03) Stefan Merten: Eigentum und Produktion am Beispiel der Freien Software. Rosa-Luxemburg-Preis 2003. http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Veranstaltungen/2003/Merten__Stefan_INHALT.pdf und http://www.opentheory.org/eigentum/text.phtml (NW) Diskussion im Vorfeld des Workshop "New Work", http://www.hg-graebe.de/WAK-Leipzig/projekt-2.html (PM-05) Potsdamer Manifest und Potsdamer Denkschrift. http://www.vdw-ev.de/manifest/index.html (RLKonf-05) Hans-Gert Gräbe (Hrsg.): Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft. Texte der V.~Rosa-Luxemburg-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. Leipzig 2006. Siehe auch http://www.hg-graebe.de/Texte/RLKonf-2005.html (Spehr-00) Christoph Spehr: Gleicher als Andere. In (Spehr-03) (Spehr-03) Christoph Spehr (Hrsg.): Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation. Karl Dietz Verlag, Berlin 2003. http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/texte9.pdf (Wolf-03) Frieder Otto Wolf: Grenzen der freien Kooperation. In (Spehr-03).