Thesen zum Kolloquium
"Bildungsanforderungen im 21. Jahrhundert"
am 30. September 2000 in Leipzig

Bildung im Computerzeitalter

Mit der Allgegenwart von Computern wird eine technologische Umwälzung eingeleitet, deren Dimension kaum zu unterschätzen ist. Die durchschnittlichen Bildungsanforderungen werden dabei gegenüber der heutigen Zeit deutlich steigen. Umfassendes und ständig aktualisiertes Allgemein- und Spezialwissen werden zu einer der wichtigsten Voraussetzungen für eine kreative und selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Arbeitsprozess.

Der Einsatz von Maschinenkraft führte seit dem 19. Jahrhundert zu einer deutlichen Zurückdrängung schwerer körperlicher Arbeit. Wo sich menschliche Arbeit auf physische Handlangerdienste für diese Maschinerie beschränkt, steht der Mensch in ständiger Gefahr sich der Logik dieser Maschinerie unterzuordnen.

Bereits die Chancen und Risiken bisheriger maschineller Technologien sind nur auf der Basis einer guten naturwissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Bildung abschätzbar. Eine solche Bildung erschließt neue Arbeitsfelder, die zur humanen, menschengerechten Nutzung der geschaffenen Maschinerie unverzichtbar sind. Sie bildet zugleich eine wichtige Voraussetzung für kreatives, selbstbestimmtes Arbeiten im Industriezeitalter. Derartige Bildungsinhalte werden heute bereits mit der in der Schule vermittelten Allgemeinbildung initialisiert.

Der Computer als Universalmaschine kann, mit entsprechender Peripherie ausgerüstet, jede algorithmisierbare Tätigkeit ausüben. Damit wird es möglich, auch monotone geistige Arbeiten von Maschinen verrichten zu lassen. Permanente Massenarbeitslosigkeit und Beschäftigung mit geistigen Handlangerdiensten sind Begleiterscheinungen dieses Umbruchs und zeigen, dass die technologisch unverzichtbaren neuen Arbeitsfelder gegenwärtig noch nicht genügend erschlossen sind.

Die Möglichkeiten, die sich aus dem Einsatz des Computers als "persönlicher digitaler Assistent" zur Ausführung komplizierter und komplexer Berechnungen ergeben, sind erst in Ansätzen zu ahnen und bilden die Basis für eine "technologische Seite des Denkens" (Buchberger).

Ein mit und gegenüber einer solchen "Maschinerie neuer Dimension" selbstbestimmtes und verantwortungsbewußtes Agieren ist nur auf der Basis eines gegenüber dem Maschinenzeitalter weiter steigenden Bildungsniveaus denkbar. Schlüssige konzeptionelle oder gar institutionelle Antworten auf diese Herausforderung stehen noch aus.

Bildung, Wissen und Gesellschaft

Die Arbeitsgesellschaft der Zukunft wird entscheidend von der auf Wissen basierenden Kompetenz ihrer Agenten geprägt sein. Solche Kompetenz speist sich aus dem in der Gesellschaft verfügbaren Wissenspool. Die gesellschaftlichen Aufwendungen für dessen umfassende materielle und personelle Reproduktion müssen dafür einen deutlich größeren Stellenwert einnehmen. Wichtigste Komponente dieses Anspruchs ist die Forderung, einen ausreichend großen Personenkreis in die Lage zu versetzen, Wissenschaft in ihren verschiedenen Facetten als Beruf zu betreiben. Fragen der Finanzierung und Refinanzierung von Wissenschaft müssen wissenschaftsadäquat gelöst werden.

"Das Wachstum der Zukunft wird ein Wachstum durch Wissen sein" (BMWi-Report "Die Informationsgesellschaft" 1995, S. 2). Prof. Frühwald (DFG) ergänzt (ebenda): "Die Explosion neuer Erkenntnisse führt dazu, dass in den kommenden zehn Jahren doppelt so viel geforscht wird wie in den 2500 Jahren seit Aristoteles bisher". Wissen wird zu einer entscheidenden Ressource für gesellschaftliche Entwicklung.

Wissen ist jedoch mehr als Information und nur in der Einheit von Wissensproduktion, -systematisierung, -vermittlung und -aneignung wirksam. "Nützliches", also unmittelbar anwendbares Wissen steht ohne ein solches tief gestaffeltes Hinterland nicht dauerhaft zur Verfügung.

Die Sozialisation von Wissen folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten, die denen des Marktes in vielen Aspekten diametral gegenüber stehen. Besondere Kraft entfaltet Wissen aus nicht vorhersehbaren Gedanken und Querverbindungen. Wissen ist deshalb nur als gesamtgesellschaftliche Ressource, als Infrastruktur, denkbar, in die jegliche andere menschliche Tätigkeit eingebettet ist. In einer modernen Gesellschaft müssen deshalb die entscheidenden Wissensgüter freizügig zugänglich sein und dürfen nicht durch Patente, Lizenzen oder ähnliche Abschottungsinstrumente einem solchen freizügigen Zugriff entzogen werden.

Mit dem Internet ist ein Medium der internationalen Vernetzung entstanden, das die weitere Digitalisierung der Wissensbasis der Menschheit stark vorantreibt. In naher Zukunft werden alle wichtigen Wissensgüter auch über dieses Medium erreichbar sein und wesentliche Teile der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kommunikation hier ablaufen. Zugang zu und Erfahrungen mit diesem Medium haben damit einen hohen bildungspolitischen Stellenwert.

Die Möglichkeiten des computergestützten Navigierens und Agierens in dieser digitalen Wissensbasis sind ebenso unermesslich wie die Profiterwartungen, die große Konzerne mit der Privatisierung von Teilen dieser Wissensbasis verbinden. Um ihrer eigenen Zukunft willen hat die Gesellschaft diese marktwirtschaftlichen Begierlichkeiten in die Schranken zu weisen und die Freizügigkeit auch digitalisierter Wissensformen zu sichern. Eine großflächige Privatisierung und Vermarktung von Wissen stellt eine nicht zu unterschätzende Bedrohung der Grundlagen unseres Gemeinwesens dar.

Bildung und Technologiefolgenabschätzung

Die Beherrschung der Risiken moderner Technologien und Produktionssysteme erfordert verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftsrichtungen und die Herauslösung von Wissenschaft aus engem ökonomischem Kalkül. Ein verantwortungsvoller Risikodiskurs funktioniert nur in einer pluralistisch organisierten Wissenschaftslandschaft genügender Leistungsfähigkeit. Die Politisierung der Ergebnisse dieses Diskurses ist nur in einer aufgeschlossenen, aufgeklärten und wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit möglich. Ein entsprechendes durchschnittliches Kultur- und Bildungsniveau ist damit auch ein wichtiges Element für die ausreichende Reflexionsfähigkeit gesellschaftlicher Strukturen.

Die Chancen und Risiken, die sich aus den komplizierten Wirkzusammenhängen moderner Technik wie etwa der Gentechnik ergeben, aber auch in hochgradig automatisierten Produktionssystemen schlummern, sind ungleich höher als die des bisherigen Industriezeitalters.

Die Wirkzusammenhänge sind derartig komplex, dass sie oft nicht mehr allein aus einer einzelnen Spezialdisziplin heraus sinnvoll eingeschätzt werden können. Interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert es, auch kompliziertere Gegenstände über enge Fachkreise hinaus zu kommunizieren. Das setzt die aktive Beherrschung eines großen gemeinsamen Überblicks- und Orientierungswissens in der "scientific community" voraus.

Ein verantwortungsvoller Risikodiskurs schließt die Notwendigkeit ein, die Einseitigkeit einer nach unmittelbar marktwirtschaftlichen "Nützlichkeits"-Kriterien organisierten Wissenschaft zu durchbrechen. Eine solche Einseitigkeit führt zunehmend zu einer Bedrohung der sozialen und biologischen Existenzbedingungen der Menschheit. Alternative und kritische Wissenschaftsansätze, die das Monitoring wichtiger sozialer und ökologischer Parameter einschließen, müssen dieses "Nützlichkeits"-Denken ergänzen.

Risiken sind nicht nur zu benennen, sondern auch in einer solchen Weise zu politisieren, dass gesellschaftliche Entscheidungen entsprechend "vernünftig" getroffen werden. Basis für eine solche Gesellschaft ist ein mündiger, informierter und wissenschaftlich interessierter Bürger, Voraussetzung ein dem Ernst der Lage angemessenes durchschnittliches Kultur- und Bildungsniveau.

Bildung, Wissen und Nachhaltigkeit

Eine auf flexiblen Produktionssystemen und hoher individueller Kompetenz basierende Gesellschaft ist viel stärker in der Lage, vielfältige Konzepte zu entwickeln, zu bewerten und nur die für Mensch und Natur geeigneten umzusetzen. Diese potenziellen Möglichkeiten der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu politisieren und gegen kurzfristig motivierte Kapitalinteressen durchzusetzen ist der einzige Weg zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Welt. Eine solche Welt braucht mündige, selbstbewußte und kompetente Bürger (Citoyen), die global denken und in regionalen Netzwerken lokal handeln.

Während man im Fordismus noch Produkte vorhielt (mit Massenproduktion, Massenkonsum, Werbung etc. im Schlepptau), verlagert sich der Schwerpunkt in einem durch flexible Produktionssysteme geprägten Technologietyp hin zum Vorhalten von Produktionsbedingungen, aus denen heraus "just in time" und maßgeschneidert entsprechend individuellen Bedürfnissen produziert werden kann. Technologisch hat die Menschheit damit die Möglichkeit, sich zu einer Vorsorgegesellschaft zu wandeln, die vielfältige Konzepte bereithält, um auf die verschiedensten Situationen adäquat reagieren zu können, von denen entsprechend der konkreten Situation aber nur einige wenige tatsächlich bis zur Realisierung geführt werden.

Bei der Bewertung solcher Konzepte muss allerdings die kurzfristig und einseitig orientierte Kapitallogik durchbrochen, zurück gedrängt und durch an Nachhaltigkeit orientierten Werten ersetzt werden. Die im Rahmen des Risikodiskurses moderner Technologien zunehmend notwendige Vernetzung von Einzelwissenschaften ist für die umfassende Diskussion derartiger sozialer und ökologischer Fragen von noch größerer Bedeutung.

Diese Vernetzung von Wissenschaft, die aus der Vernetzung der Computerwelt starke Impulse erfährt, muss durch die Vernetzung verantwortungsbewusster und politisch aktiver Bürger ihre Ergänzung finden, um die Kapitallogik zurück zu drängen und so der Biosphäre der Erde durch die Herausbildung einer vernetzten und handlungsfähigen "Vernunftsphäre", der Noosphäre, die Existenzbedingungen zu sichern.

Solche kollektiven Vernunftformen, die sich aus der kommunikativen Vernetzung heutiger Sozialisationsformen entwickeln, haben auch ein anderes gesellschaftliches Grundklima als das kapitalistisch geprägte zur Folge: sie funktionieren nur im Miteinander, nicht im Gegeneinander ihrer einzelnen Teile. Die subtile Sprengkraft eines solchen Solidargedankens in einer kapitalistisch geprägten Umgebung von Eigennutz und Konfrontationsdenken muss in linken Konzepten einen wesentlich zentraleren Platz einnehmen als derzeit üblich.

Eine solche Solidarität im Großen schließt Wettbewerb, auch auf marktwirtschaftlicher Grundlage, ein, vermag ihn aber dort zu zähmen, wo er beginnt, sich gegen diese solidarische Grundlage selbst zu richten. Instrumente und Ansätze für eine solche Zähmung gibt es bereits heute mehr als genug. Diese selektiv verstärken zu helfen sollte deshalb linker Politik zu einem ihrer zentralen Anliegen werden.


Prof. Dr. H.-G. Gräbe, Version vom 2. Juni 2000