Zur "Potsdamer Denkschrift" des VDW - Vereins Deutscher Wissenschaftler

Diskussionsgrundlage: Hans-Gert Gräbe

Veranstaltung im Rahmen von WAK-Leipzig am 11. Januar 2006

Abstract

Anlässlich des Einstein-Jahres 2005 verfassten der Physiker Hans-Peter Dürr, der Geograph und Ökologe Daniel Dahm sowie der Philosoph und Sozialwissenschaftler Rudolf zur Lippe das Potsdamer Manifest 2005 "We have to learn to think in a new way" und dessen 'Mutter', die Potsdamer Denkschrift 2005. 50 Jahre nach dem Einstein-Russell-Manifest sehen sich die Autoren in dessen Tradition, Handlungsmöglichkeiten, -erfordernisse und -optionen aus den existenziellen Bedrohungen herzuleiten, in die sich die Menschheit durch ihre eigene Entwicklung gebracht hat.

Diese Aktivität ist eingeordnet in die Bemühungen des "Vereins Deutscher Wissenschaftler" - der bundesdeutschen Sektion der internationalen Pugwash-Bewegung "Wissenschaftler in Verantwortung für den Frieden" - anlässlich des 50. Todestages Albert Einsteins die Ideen dieses großen Gelehrten weiterzudenken. Deren Veranstaltungsreihe "Einstein weiterdenken" bezieht sich dabei nicht nur auf seine bahnbrechenden Leistungen in der Physik, sondern auch auf sein gesellschaftliches Engagement in der Wahrnahme seiner herausgehobenen Verantwortung als Wissenschaftler von Weltruhm.

In der Wahrnahme einer solchen Verantwortung sehen sich auch die Autoren des Potsdamer Manifests. Vom 24. bis zum 27. Juni 2005 wurden die Texte in Potsdam im Rahmen eines international begleiteten Symposions fachübergreifend diskutiert und beraten. Am 14. Oktober 2005 wurde es in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt und inzwischen (Stand 13.12.2005) von 118 Wissenschaftlern mit vorwiegend hoher internationaler Reputation unterzeichnet. Unter ihnen der Nobelpresträger Prof. Klaus von Klitzing, der Stifter des Alternativen Nobelpreises Jacob von Uexküll und 16 der Preisträger.

Seitdem hat diese Schrift eine vielfältige Resonanz erfahren, positive wie negative. Die Spanne der Äußerungen reicht von "zu blauäugig" bis "zu schwarz gesehen". Insbesondere die philosophisch tiefergehenden Überlegungen zu einer "Kategorie des Prälebendigen" sowie zum Übergang zu stärker dynamischen Mehrskalenansätzen (Koevolution) sind sehr umstritten.

Thema der Schrift sind Tiefe und Dimension der Umbruchprozesse unserer Zeit. Mit den "Chemnitzer Thesen" gab es einen Versuch in derselben Richtung im Kontext der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. Obwohl einem anderen Ansatz verpflichtet, ist es interessant, die Parallelen in den Schlussfolgerungen der beiden Argumentationen zu analysieren.

Bericht

In der Diskussion wurde das deutlich, was sich auch schon bei der Zusammenstellung der Chemnitzer Thesen [Gräbe-05] als zentrales Problem ergab: Es ist ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, die Umbrüche der heutigen Zeit in einer solchen Breite in den Blick zu bekommen, dass alle wichtige Entwicklungslinien sichtbar werden.

Ein zweites Problem ist ein methodisches: Wenn es die Autoren mit ihrer These "We have to learn to think in a new way" ernst meinen, dann müssen sie damit rechnen, dass ihren Lesern in der Mehrzahl ein solches "Denken auf neue Art" weitgehend fremd ist und in deren Köpfen selbst begrifflich allenfalls in Versatzstücken existiert. Bei der Mehrzahl der Leser werden sie also vor allem darauf bauen müssen, dass Saiten aus deren praktischer Erfahrungswelt zum Schwingen kommen. Umgekehrt sollte der (nicht oberflächliche) Leser dieses Problem der Autoren erkennen und zu verstehen versuchen, wie die Autoren dieses Problem angegangen sind.

Entsprechend schwierig gestaltete sich die Diskussion nach den einführenden Bemerkungen. Die ungewohnte Art Dinge zu betrachten stieß zunächst auf massive innere Widerstände, die schließlich in die Frage mündete: "Was ist Denken?"

Eine generelle und auch an anderen Stellen (etwa [Ortlieb/Ulrich-05]) geäußerte Kritik richtet sich dagegen, dass die heutigen Machtkonstellationen und ihr Ausdruck in ideologischen, manipulativen und politischen Prozessen als die - aus der Sicht der Kritiker zentralen - Ursachen der gesellschaftlichen Krisenprozesse unterbelichtet sei. Obwohl im Abschnitt I der Denkschrift hierzu knapp, aber deutlich Stellung bezogen wird, ist es eigentlich der darauf folgende Schritt der Autoren zur fundamentaleren Frage, ob die Wurzeln der Krise nicht tiefer reichen bis zu "unserem inzwischen weltweit favorisierten materialistisch-mechanistischen Weltbild .. und dem Denken, das aus dem Geist des Machens resultiert und machtförmiges Handeln provoziert", der die wirkliche Irritation auslöst.

Allerdings handelt es sich bei diesem Gedanken um den zentralen der Denkschrift. In seiner Konsequenz ist er die logische Fortschreibung des Einstein-Russell-Manifests, das bereits damals das Ende machtpolitischer Argumente angesichts der Gefahren eines atomaren Holocaust thematisierte. 50 Jahre später ist deutlich, dass die Atomkriegsgefahr nur die Spitze eines Eisbergs von globalen Gefahren ist, die ihre Quelle nicht so sehr im möglicherweise unkontrollierten Auslösen eines nuklearen Konflikts, sondern vielmehr im täglichen praktischen Betrieb einer globalen Industriemaschine haben, die bisher mit Stolz als die Krone wissenschaftlich-technischer Schöpfung und als Unterwerfung der Natur unter den Willen des Menschen gefeiert wurde.

Die Konsequenzen der Anerkennung dieses heute sicher kaum noch bestreitbaren Fakts sind unterschiedlich: (1) Plädoyer für eine weitere Vervollkommnung der Industriemaschine - bessere Technik, bessere Kontrollen, bessere Verantwortlichkeit für Schäden usw.; (2) die große politisch-zivilgesellschaftliche Anstrengung des Ringens um ein politisch-administratives System, welches dieser Industriemaschine angemessen ist oder eben (3) es sind nicht so sehr die Verhältnisse des Austauschs und der Kontrolle, sondern die Art und Weise selbst, in der wir derzeit produzieren, die auf den Prüfstand gehört. Neue gesellschaftliche Verhältnisse in einem solchen Sinn enthalten als zentralen Kern eine neue Weise zu arbeiten, zu handeln und schließlich auch zu denken - "learn to think in a new way".

Umbrüche in einer solchen Dimension zu denken ist sehr ungewohnt, wenn auch in Versatzstücken bereits in vorangegangenen Diskussionen sichtbar geworden - insbesondere beim Nachdenken über die Rolle von "Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft" [RL-Konf-05], über "Bildungsanforderungen des 21. Jahrhunderts" [BK-00] und über die Anforderungen an Gesellschaft, die aus der "Multioptionalität von Zukunft" [Laitko-01] resultieren.

Hans-Gert Gräbe (12.01.2006)

Literatur

[BK-00]
Kolloquium "Bildungsanforderungen im 21. Jahrhundert" am 30. September 2000 in Leipzig. Siehe http://www.hg-graebe.de/Texte/b-thesen.html
[Gräbe-05]
H.-G. Gräbe: Wissen in der modernen Gesellschaft. Chemnitzer Thesen. Siehe [RL-Konf-05]
[Ortlieb/Ulrich-05]
Quantenquark: Über ein deutsches Manifest. Eine kritische Stellungnahme von Claus Peter Ortlieb und Jörg Ulrich. Gekürzt erschienen in der FR. Siehe http://www.oekonux.de/liste/archive/msg09961.html
[Laitko-01]
Hubert Laitko: Bildung als Funktion einer multioptionalen Gesellschaft. Utopie kreativ 127 (2001), 405-415.(pdf)
[PM]
Potsdamer Manifest und Potsdamer Denkschrift. Siehe http://www.vdw-ev.de/manifest/index.html
[RL-Konf-05]
Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft.
5. Rosa-Luxemburg-Konferenz der RLS Sachsen, 3.-5. Juni 2005 in Chemnitz
Siehe http://www.hg-graebe.de/Texte/RLKonf-2005.html


Prof. H.-G. Gräbe