"Gleicher als Andere" - Christoph Spehr zu Freiheit und Gleichheit

"Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung. Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung. Freiheit und Gleichheit haben eine gemeinsame Wurzel: Solidarität." So heißt es im Flyer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Das Problem der Vereinbarkeit von sozialer Gleichheit und politischer Freiheit schält sich in der Analyse der Sozialismusversuche des 20. Jahrhunderts immer mehr als zentrale Frage sozialistischer Utopie, die Wege dorthin zu einer wichtigen Frage der politischen Praxis linker Projekte heraus.

Dies mag auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin bewogen haben, das Thema "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?" zum Gegenstand der Ausschreibung des Rosa-Luxemburg-Preises 2000 zu machen. Von der Jury (u.a. mit Daniela Dahn, Frigga Haug, Hermann Klenner und Edelbert Richter) wurde Christoph Spehrs Arbeit "Gleicher als Andere - Eine Grundlegung der Freien Kooperation" als überzeugendste Antwort auf die gestellte Frage ausgezeichnet.

Der Name des Autors - obwohl in alternativen linken internationalistischen und antirassistischen Kreisen, u.a. als Mitherausgeber der Zeitschrift 'alaska', ein wichtiger Akteur - scheint in PDS-nahen Kreisen noch weitgehend unbekannt zu sein. Nur so lässt sich die mäßige Resonanz auf eine Diskussionsveranstaltung mit dem Autor am 24.3.2001 in Leipzig erklären, zu der die Rosa-Luxemburg-Striftung im Rahmen ihrer Veranstaltungsreihe "Mensch, Technik, Bildung im Computerzeitalter" eingeladen hatte. Dabei sind Spehrs Arbeiten in linken Kreisen außerhalb der PDS längst ein Begriff. Sein "Alien-Buch" ("Die Aliens sind unter uns!", Siedler Verlag 1999) kann mit gutem Recht sogar zu den "Kultbüchern" gerechnet werden.

In einer Theorie der freien Kooperation sieht C. Spehr das Bindeglied zwischen politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. In seinem Vortrag am 24.3. betonte er, dass es sich bei diesen Überlegungen weniger um ein Modell als vielmehr das Nachzeichnen realer Prozesse und Umgangsformen handelt, die sich im Rahmen verschiedener gesellschaftlicher Bewegungen (Feminismus, antiautoritäre Bewegungen, Kampf um Minderheitenrechte, Dritte-Welt-Problematik) immer deutlicher als Voraussetzung für die nachhaltige Etablierung von Gerechtigkeit heraus kristallisiert haben. Das alte Avantgarde-Prinzip mit seinem allgemein gültigen "Gerechtigkeitsbegriff" außerhalb und jenseits konkreter sozialer Beziehungen hat sich als untauglich erwiesen, da sich Gerechtigkeit nicht von außen in soziale Beziehungen hinein tragen lässt, sondern nur vor Ort selbst, in der direkten Auseinandersetzung der Akteure, geboren werden kann. Allerdings müssen diese Auseinandersetzungen 'fair' sein - sowohl von ihren Voraussetzungen als auch Verlaufsformen her.

Ein solcher Fairnessbegriff ist der zentrale Gegenstand der Theorie freier Kooperation - ohne die Augen davor zu verschließen, dass es sich dabei nur um Keimformen einer zukünftigen Organisation sozialer Beziehungen in einer heute weitgehend durch erzwungene Kooperation geprägten Gesellschaft handelt. Die wichtigsten, eine solche freie Kooperation als Form direkter sozialer Auseinandersetzung prägenden Grundsätze sieht Christoph Spehr in folgenden drei Punkten:

  1. Es gibt keine gesetzten, von oben diktierten, nicht verhandelbaren Regeln;
  2. Beteiligte können die Kooperation wirklich verlassen oder einschränken, um Einfluss auf die Regeln zu nehmen;
  3. Der Preis für einen solchen Konflikt ist für alle Beteiligten vergleichbar und vertretbar.
Es gibt, gerade im privaten Bereich, viele soziale Beziehungen, die unter solchen Bedingungen gestaltet werden. Warum soll es also nicht möglich sein, ähnliche Bedingungen auch für soziale Beziehungen in größerem Maßstab zu etablieren und sie damit ins Zentrum einer sozialistischen Gesellschaftsvision zu rücken? Statt einer abstrakten 'sozialen Gerechtigkeit' als Prinzip den Begriff der 'Solidarität' als deren Bewegungsform in den Mittelpunkt stellen?

Doch C. Spehr hat mehr zu bieten als nur eine solche Vision. Auf die Frage, wie sich heutige, durch erzwungene Kooperationen dominierte soziale Verhältnisse in der anvisierten Richtung transformieren lassen, gibt er folgende Antwort: Die zentrale Stoßrichtung zur Durchsetzung freier Kooperation ist die Zurückdrängung und Abwicklung aller Formen von Herrschaft und Gewalt - direkter, physischer Gewalt ("militärische" Ebene), struktureller Unterordnung ("ökonomische" Ebene), Diskriminierung ("soziale" Ebene), von Kontrolle der Öffentlichkeit ("institutionelle" Ebene) und von Abhängigkeit ("existenzielle" Ebene). Es reicht insbesondere nicht aus, alte Herrschaft durch neue zu ersetzen - etwa durch eine Diktatur des Proletariats -, um endlich 'das Gute' durchzusetzen, da jede solche neue Herrschaft erzwungene Kooperation reproduziert und damit vom Regen in die Traufe führt. Eine Politik der freien Kooperation muss neben diesem destruktiven Moment der Herrschaftsdekonstruktion auch neue Beziehungsformen herausbilden, die C. Spehr in folgenden Richtungen sieht:

In der Diskussion wurden zwei Aspekte deutlich. Zum einen handelt es sich bei dem vorgestellten Ansatz um eine Denkübung jenseits klassischer, wohlfeiler linker Argumentation, wie sie im Umfeld der PDS gewöhnlich anzutreffen ist. Entsprechend schwierig ist es, diese Gedanken auf Anhieb in ihrer vollen logischen Dimension zu erfassen. In diesem Sinne konnte die Veranstaltung nicht mehr erreichen, als anzuregen, Spehrs Arbeiten genauer zu lesen und den Streit darüber weiter zu führen. Das lohnt allerdings, legt er doch den Finger in die wohl schmerzendste Wunde sozialistischer Programmatik - die Frage nach den inneren Gründen des Scheiterns bisheriger Sozialismusversuche. Spehrs Antworten bieten Anschluss an andere linke Diskurse, etwa die Feminismusdebatte (A. Schwarzer: Der große Unterschied - Gegen die Spaltung von Menschen in Männer und Frauen. Kiepenheuer/Witsch, Köln 2000) oder linke Denker in der 3. Welt (vgl. etwa H. Thielen in UTOPIE kreativ, Heft 125 (2001), 242-252), die auch in der Diskussion (W.+F.Haug, Lauermann) auf der Luxemburg-Konferenz am 16.-18.3.2001 in Leipzig anklangen.

Hans-Gert Gräbe, Leipzig - 17.7.2001