(c) H.-G. Gräbe, 12/2006 Quelle: http://www.hg-graebe.de/Texte/Kommentare/06-12-25.txt ================================================================ Zur Hoevels-Laska-Debatte um Max Stirner in der Zeitschrift "Der Einzige", Heft 13/14 und 15 (2001) Ob Stirner ein "Quietist" (Hoevels) oder Marx gar ein "lärmender Quietist" (Laska) gewesen ist, kann nur in einem historisch-konkreten Kontext beurteilt werden. Dass es heute noch entschieden werden müsse - wie es in Laskas Replik durchschimmert - darf ebenso bezweifelt werden wie die Angemessenheit einer entsprechenden Attribution Stirners durch Hoevels. Eher hat für mich Hoevels' Aufforderung an "uns Nachgeborene" Geltung, "uns weniger für diese von den historischen Umständen nahegelegten Einschränkungen bedeutender Personen (zu) interessieren als für deren eigentliche, auch von uns verwertbare Leistung." Wichtig erscheint mir dabei auch die Frage, warum Marxens Ökoanalyse im bekannten Umfang "die Massen ergreifen" konnte, warum dies einer "unverfälschten Psychoanalyse" (Hoevels) in der Tradition Stirner/Freud/Reich bisher nicht vergönnt war, und warum die Untersuchung der Bedeutung des Über-Ichs - dieses "malignen Introjekts", welches "durch Bewußtmachung seiner individuellen Genese möglichst restlos abzubauen und zu zerstören" ist (Hoevels) - seit den 1970er Jahren (wieder) an Bedeutung zu gewinnen scheint. Warum - im dauernden Strom der Denkansätze - es gerade *diese* und gerade *zu dieser Zeit* sind, die auf Resonanz treffen. Physikalisch ist *Resonanz* ein Phänomen der Koevolution dynamischer Systeme, entstehend aus der "Schwingungsgleichheit" ihrer Kopplung. "Auf Resonanz treffen" bedeutet in diesem Sinne und unserem Kontext Gleichklang mit Bedürfnissen von Praxen. Wobei ich - mit Blick auf eine hochspezialisierte Welt - im Gegensatz zu Hoevels und Laska bewusst die Pluralform "Praxen" wähle, um denkbar zu machen, dass die Ökoanalyse in der speziellen Marxschen Ausprägung zu anderen Praxen "in Resonanz" stehen könnte als die Psychoanalyse in der genannten Tradition. Derartige Resonanzen entstehen nach meinem Verständnis aus der Bewegung der Praxen heraus, indem sie gewisse Denkansätze "zum Schwingen bringen", nicht aus einer Bewegung der Theorie. Deshalb stimme ich Laska zu, dass Hoevels' Konstrukte einer "unverfälschten Psychoanalyse" ebenso wie eines "unverfälschten Leninismus" die Bedeutung des Einflusses von Denkansätzen auf die Dynamik von Praxisformen stark überschätzen. Der Einfluss eines Denkansatzes beginnt erst dann, wenn er "die Massen ergreift"; allerdings pflegen "die Massen" dabei wenig respektierlich mit der "Unverfälschtheit" von Denkansätzen umzugehen. Diese sind eher der Steinbruch, aus dem sich die Denkformen bedienen, die sich zu entsprechenden Praxisformen herausbilden. Hoevels' Ansatz, in guter leninistischer Tradition diesen Praxen mit dem Aufbau einer "verläßlichen Gegenloyalität" durch einen "die Höhen der Theorie einmal erklommen habenden Organisator" *nachzuhelfen*, kann in diesem Licht nur als Voluntarismus erscheinen, Praxen (erneut) zur Magd der Theorie zu degradieren. Diese - menschlich vielleicht noch verständliche - Renaissance revolutionärer Ungeduld steht in krassem Gegensatz zu den bitteren realsozialistischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Hoevels sehr kurzschlüssig unter dem Wort "Stalinismus" subsumiert. Es bleibt - über die Hoevels-Laska-Debatte hinausgehend - die Frage, ob es sich beim Überich wirklich einzig um ein "malignes Introjekt" handelt oder dieses vielmehr auch als Teil unserer Kultur zu begreifen ist, als Puffer zwischen der Widersprüchlichkeit der inneren Triebe/Antriebe und der Einheit/Einzigkeit der äußeren Welt. Falls die Welt aus großen, kleinen und kleinsten Gegensätzen aufgebaut ist und sich ihre Dynamik gerade aus dem dauernden Prozessieren dieser Konflikte speist, so ist es an der Zeit, auch eine dem angemessene, zivilisierte "Konfliktkultur" im zwischenmenschlichen Bereich (weiter) zu entwickeln. Vielleicht ist nach 250 Jahren Aufklärung, in denen vor allem die normative Seite einer solchen Konfliktkultur geschaffen wurde, erst jetzt die Zeit gekommen, deren Individualkomponente auch praktisch einer grundlegenden Revision zu unterziehen - durch "Entfaltung einer primär aus der eigenen Lebenspraxis gespeisten kritischen Vernunft, die Es und Ich zu Lasten des Über-Ich einander wieder näher bringt ..." (Gräbe 2005) Wobei dieser Über-Ich-Abbau durchaus Vorsicht erfordert, um das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Denn "die innere Revolution der Revolution ... ist die Überordnung des moralischen Gesetzes über die Neigungen in jedem Augenblick unseres Handelns, denn niemand kann wollen, daß seine Neigungen/Interessen Gesetz dieser Welt werden; abgesehen davon, daß das Gesetz im nächsten Moment gegen mich selber wirkt, und ich die Welt, die ich nicht will, aus eigener Schuld schon habe, bevor ich darüber philosophiere. Harmloser braucht man den kategorischen Imperativ gar nicht erst zu denken." (Wittenberger 2005) Literatur: "Der Einzige". Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, http://www.stirner-archiv-leipzig.de Fritz Erik Hoevels: Stirner, Psychoanalyse und Marxismus. In: Heft 13/14 (2001), S. 15-22. http://www.lsr-projekt.de/hoevels1.html Bernd A. Laska: Max Stirner - ein Verächter der "Praxis"? In: Heft 13/14 (2001), S. 22-30. http://www.lsr-projekt.de/laska1.html Fritz Erik Hoevels: Stirner, Psychoanalyse und Marxismus II. In: Heft 15 (2001), S. 23-31. http://www.lsr-projekt.de/hoevels2.html Bernd A. Laska: Karl Marx - ein lärmender Qiuetist. In: Heft 15 (2001), S. 31-33. http://www.lsr-projekt.de/laska2.html Hans-Gert Gräbe (2005): Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft (Chemnitzer Thesen). In: Utopie kreativ 194 (2006), S. 1109-1120. http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte/cc-thesen.pdf Werner Wittenberger (2005): Das Gute und das Böse oder wie Kant die Religion philosophisch beerbt. In: Aufklärung. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants Hrg. von S. Bönisch. Texte zur Philosophie 15. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. S. 67-90.