Denken wir, was wir sollen -- oder sollen wir, was wir denken?
Thesen zu Ideologie und Ideologiekritik

Vortrag und Diskussion mit Martin Dornis (Leipzig)

07. Juni 2006, 18:00 Uhr, Harkortstraße 10, RLS Sachsen

Thesen

In dieser Gesellschaft werden wir immer wieder dazu gebracht, das zu wollen, was wir sollen. Können wir diese Zurichtung durchbrechen? Können wir es lernen, zu den Akteuren unseres Denkens und Handelns zu werden? Dazu folgende Thesen:

Martin Dornis (09.05.2006)

Bericht

In seinen Ausführungen ging Martin Dornis von einem Begriff "gesellschaftliche Praxis" aus als eines sich historisch entwickelnden gesellschaftlichen Zusammenhangs des Denkens und Tuns von Menschen. Denken und Handeln sind in diesem Sinne notwendig eng miteinander verquickt, denn Handeln speist sich aus situativen Gegebenheiten sowie dem privat (als Erfahrung) und historisch (als Wissen) akkumulierten Denken. Denken in diesem Sinne ist nie voraussetzungslos, da es in historisch gewachsenen und damit vorkonditionierten menschlichen Subjekten stattfindet (siehe auch [Wolf-05]). Genau hier kommt Ideologie als relativ stabiles Element dieser Vorstrukturierung ins Spiel, die Martin Dornis mit Marx ("Deutsche Ideologie") als notwendig verkehrtes Bewusstsein definiert. Alle drei Bestimmungsworte sind für den Ideologiebegriff wichtig.

Als objektive Gedankenform ist Ideologie dem individuellen Denken vorgelagert und gibt letzterem einen Rahmen. Die Ideologieformen dieser Gesellschaft sind stark geprägt von den Wirkungsmechanismen des Markts. Sie erzeugt damit einen gewissen Schein von Wirklichkeit, innerhalb dessen sich das Denken und damit Handeln der Menschen bewegt. Im Sinne dieser Differenz zwischen Schein und Wirklichkeit ist sie verkehrt und bewirkt in dieser Gesellschaft das Auseinanderbrechen einer gesellschaftlichen Totalität in einzelne "Akteure am Markt", für welche die Totalität menschlicher Beziehungen als "blinde Marktkräfte" daherkommen, die eine eigene Macht hinter ihrem Rücken zu sein scheint.

Die Totalität, den "Fluss des gesellschaftlichen Tuns" ([Holloway-04]), bekommt man deshalb nur wieder in den Blick, wenn man diese Ideologiemauer durchstößt. Strategien der Überwindung dieser Gesellschaft müssen deshalb zentral ideologiekritisch sein.

Antworten auf zwei Fragen fielen an diesem Abend nicht nur mir zu knapp aus. Die erste Frage ist die nach der Relativität von Ideologiekritik, die eine der Teilnehmerinnen mit der Frage auf den Punkt brachte, ob denn nicht Ideologiekritik ihrerseits Ideologie produziere. Für praktisch relevante Ideologiekritik wird man diese Frage wohl bejahen müssen, denn sie entsteht notwendig an Stellen, wo die eigene Praxis an die Grenzen bisheriger Ideologie stößt, und sie ist bewusst, denn sie ist mit intensiver gedanklicher Reflexion verbunden. Allein mit dem verkehrt ist es so eine Sache, wenn diese im Sinne von wahr/falsch oder dem Marxschen "vom Kopf auf die Füße" verstanden wird. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass Ideologiekritik als Durchstoßen einer Welt des Scheins, der gut genug für die gestrige Praxis war, aber von der heutigen Praxis transzendiert wird, zu einer Weltsicht führt, die fürderhin ein solches Durchstoßen nicht mehr erfordert. Im Gegenteil, auch die Differenz zwischen dem Sein und dem neuen Schein wahrzunehmen, ist ein zentrales Moment von Ideologiekritik als Methode. Kritik der Kritik führt dann zu einer doppelt verkehrten Weltsicht und damit auf gut bekannte Pfade einer dialektischen Weltsicht, in der Blochsche Kategorien wie Latenz und Potenz sowie die Entfaltung des Noch-Nicht eine wichtige Rolle spielen. Wir sind einmal mehr bei zentralen Argumentationslinien von [Holloway-04] angekommen.

Die zweite Frage richtet sich auf die funktionale Bedeutung von Ideologie. Die herausragende Rolle von Ideologie im hier besprochenen Sinn für diese Gesellschaft und die starken Kräfte, die genau diese Art von Schein reproduzieren, sind ohne eine solche funktionale Quelle nicht zu denken, die nach Marx vor allem im Bereich der Produktivkraftentwicklung zu suchen ist. Diese Frage blieb gänzlich ausgespart, obwohl erst eine Antwort darauf die praktischen Chancen von Ideologiekritik realistisch abzuschätzen erlaubt. Falls Ideologiebildung die Reaktion auf immer komplexere gesellschaftliche Phänomene ist - als Moment der individuellen Komplexitätsreduktion -, dann wäre zu fragen, ob verschiedene solche Reduktionsstufen nebeneinander existieren können, ja vielleicht sogar müssen. Dies würde aber bedeuten, dass einer Vielfalt von Reflexionsebenen in der Gesellschaft auch eine Vielfalt von Ideologieebenen gegenübersteht, die miteinander ideologiekritisch verbunden sind. Das Bild würde um einiges komplizierter als an diesem Abend diskutiert.

Hans-Gert Gräbe (08.06.2006)

Literatur

[Holloway-04]
John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Verlag Westfälisches Dampfboot, 2004.
[Wolf-05]
F.O. Wolf: Grenzen und Schwierigkeiten der freien Kooperation. Vortrag in der Reihe WAK-Leipzig am 29.10.2005.


Prof. H.-G. Gräbe