Christ sein heute

Diskussionsgrundlage: Jonathan Böhm (stud. theol., Uni Leipzig)

28. September 2006, 18:30 Uhr, Harkortstraße 10, RLS Sachsen

Ankündigung

Es mag auf den ersten Blick überraschen, eine solche Problematik auf der Agenda eines Diskussionskreises zu finden, welcher "Wege aus dem Kapitalismus" thematisiert. Doch stellen wir uns seit langem dieselben Fragen, wie folgendes Zitat (D. Bonhoeffer) belegt: "Wie sprechen wir von Gott - ohne Religion, d.h. eben ohne die zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik ...? Wie sprechen (oder vielleicht kann man eben nicht einmal mehr davon 'sprechen' wie bisher) wir 'weltlich' von 'Gott' , wie sind wir 'religionslos-weltlich' Christen, wie sind wir ec-clesia, Heraus-gerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige? Christus ist dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz Anderes, wirklich Herr der Welt. Aber was heißt das?"

Diesen zentralen Fragestellungen wollen wir nachspüren.

Bericht

Die jeden Christen umtreibende Suche nach Gott und die sich dabei ergebende Frage "Wer bist du, Christus?" dechiffrierte Jonathan Böhm als die Frage "Wer bist du, Mensch?", die - hinausgerufen - als Echo mit einer Antwort beladen zurückkommt. Womit der erste Kreis zu einem marxistischen Verständnis von Religion schon geschlossen ist: Die Frage nach Gott als die Frage nach dem Innersten des Menschen selbst. Allerdings beunruhigt den Menschen die im Echo mitschwingende Antwort des Sich-Einlassens auf eigene Kraft und Urteil, nach Freiheit und Selbstverantwortlichkeit (denn was ist "allein vor Gott verantwortlich" anderes), stimmt sie doch so überhaupt nicht mit den praktischen Erfahrungen in einer autoritativ-machtförmig strukturierten Gesellschaft überein. Die Verunsicherung geht so weit, dass Christus getötet wird und damit auch die Frage "Wer bist du, Mensch?". Die Auferstehung Jesu Christi zeigt, dass es nicht Sache eines Willensakts des Menschen ist, sich dieser Frage nicht zu stellen. Im Gegenteil, das Leben selbst fragt immer wieder, warum es Verhältnisse gibt, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". (MEW 1, S. 385)

Dass trotz deutlich verschiedener Wurzeln diese beiden Denkströmungen - (protestantisches) Christentum und (originärer) Marxismus - in ihren Einschätzungen und Handlungsmaximen zu diesem Thema schnell konvergieren, das wusste auch ein bekennender Atheist, als welcher sich einer der Diskussionsteilnehmer bezeichnete, anzuerkennen. Liegt beidem doch die Utopie einer gerechten Gesellschaft, einer "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (MEW 4, 482), zu Grunde. Gleichwohl weist das christliche Verständnis dieser Utopie als "die Hütte Gottes bei den Menschen! und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein" (Offenbarung 21,3) auf eine leicht andere Nuance hin; dass es weniger um die "Assoziation" selbst geht als um den "Geist der Assoziation", um das prozessierte, nicht mehr verdrängte, sondern gesellschaftsmächtig gewordene Echo der Antwort auf die Frage "Wer bist du, Mensch?".

Im Gegensatz zur kanonisch-marxistischen Auffassung einer "gemeinsamen großen Kraftanstrengung" - heute gern auch nicht mehr in der diskreditierten Form einer "Diktatur des Proletariats" - deutet dies auf einen subversiven und unspektakulären Weg als einzig möglichen zur Realisierung dieser Utopie hin. In dem Zusammenhang kam eine weitere Gemeinsamkeit von Christen und Kommunisten zur Sprache; die praktische Erfahrung, dass es nicht hilft, auf dem Weg zur Realisierung der Utopie anzunehmen, dass es zu einem Zeitpunkt Erleuchtete und weniger Erleuchtete gäbe. Der Weg zur Realisierung der Utopie ist ein gemeinsamer, aber kein gemeinschaftlicher - jeder selbst muss seinen eigenen Weg selbst finden. Mit dem Erringen von (herrschaftsförmiger) Macht geht der subversive Gehalt der Utopie und damit letztlich auch die Utopie selbst verloren. In diesem Sinne brauchten sich Christen und Kommunisten gegenseitig, weil noch nie beide zugleich Macht errungen hatten, der je andere also immer der Stachel im Fleisch blieb.

Auf eine letzte Frage, gestellt von Siegfried Bönisch, möchte ich noch eingehen - die Frage nach der Rolle des Bekenntnisses. Spielt dieses doch sowohl für Christen als auch für Kommunisten traditionell eine große Rolle. Jonathan Böhm und Siegfried Bönisch dechiffrierten in ihren Antworten die Frage für sich jeweils als die nach Widerständigkeit gegen den Zeitgeist, was im Kontext der bisherigen Ausführungen durchaus folgerichtig ist. Gleichwohl spielt in der Tradition beider Kulturen das Bekenntnis als nach außen hin sichtbar gemachte Akklamation in Form der "Gretchenfrage" eine um vieles bedeutsamere Rolle als dass man diese Antwort unhinterfragt stehen lassen kann. Genau an dieser Stelle wird der hauchdünne Grat sichtbar, ob bei diesem Bekenntnis Christus ein weiteres Mal getötet wird oder nicht. Inneres und äußeres Bekenntnis spielen dabei eine diametral entgegengesetzte Rolle.

Hans-Gert Gräbe, 3.10.2006

Jonathan Böhms Referat als pdf.


Prof. H.-G. Gräbe